Was soll man über diese Route schreiben? Bietet sie schöne Kletterei? Macht es Spaß sie zu klettern? Würde ich nochmal einsteigen? Alle diese Fragen kann ich mit einem klaren „nein“ beantworten – und trotzdem: die Via Vertigine bietet ein wohl einzigartiges Klettererlebnis und deshalb kann ich sie nur weiterempfehlen!

Wer kennt sie nicht, die Sonnenplatten im Sarcatal. Unweigerlich wandern aber die Blicke auch höher hinauf in das sogenannte „Gelbe Universum“ – einer 600m hohen und 120m(!) überhängenden Festung aus brüchigem Fels. Bis vor kurzem glaubte keiner daran, dass man diese Wand auch in freier Kletterei überwinden kann – bis David Lama und Jorg Verhoeven vor zwei Wochen das Gegenteil bewiesen. Da sich aber weder Gerhard noch ich im Schwierigkeitsgrad 8b wohl fühlen entschieden wir uns bei der Tourenplanung für eine der drei technischen Routen in der Wand und zwar für die Via Vertigine.

Unser Plan für das Wochenende sah im Grunde ganz einfach aus: Am Samstagvormittag nach Arco fahren, Räder für den Abstieg deponieren und noch ein paar Ausrüstungsgegenstände (z.B. Clipstick) kaufen, am Nachmittag den 400m langen Vorbau klettern, am Sonntag durch die Dächerzone und mit den Fahrrädern retour nach Arco, um am Montag ganz normal arbeiten zu gehen… Es sollte dann doch ein bisschen anders kommen:

Als wir die vielen, in der sengenden Mittagshitze schwitzenden, Biker auf der Straße hinauf nach San Giovanni überholten, überkamen uns doch gewisse Zweifel, ob Juni die richtige Jahreszeit für unsere Tour ist. Aus Gewichtsgründen können wir ja nicht allzu viel Wasser mitnehmen und der Wetterbericht meldete Temperaturen von 30 Grad oder mehr… Unsere Euphorie war aber stärker als der Zweifel und so versteckten wir neben unseren Rädern auch noch ein paar Flaschen Wasser im Gebüsch.

Wieder zurück in Arco mussten wir dann feststellen, dass alle Sportgeschäfte eine ausgiebige Mittagspause machen und so verzichteten wir gezwungenermaßen auf einen Clipstick – „wird schon auch ohne gehen…“.

Am Parkplatz der Sonnenplatten fand dann die obligatorische Material-Sortiererei statt und da wir beide vergessen hatten eine kleine Tube einzupacken wurde die Sonnencreme kurzerhand in Überraschungseier umgefüllt – ein nahezu genialer Gerhard’scher Geistesblitz! Für den Zustieg zur Wand benötigten wir etwa eine Stunde und verschwitzten schätzungsweise die gleiche Menge Flüssigkeit, die wir eingepackt hatten.

Um 17 Uhr ging es dann endgültig los: Die 13 Seillängen des 400m langen „Vorbaus“ bieten eine Mischung aus kurzer, steiler und meist brüchiger Wandkletterei mit langen, leichteren Reibungspassagen. Die Absicherung mit 10mm Bohrhaken ist ausreichend, auch wenn in den leichten Längen die Abstände schon mal mehr als 15m sein können. Gerhard und ich kamen in Wechselführung sehr flott voran und drei Stunden später waren wir schon am Bäumchen, wo die Tour dann erst so richtig losgehen sollte.

Wir fanden uns schon mit dem Schicksal eines unbequemen Sitz-Biwaks ab, ehe wir dann doch beschlossen über ein Felsband etwa 80m nach Norden zu einem kleinen Wald zu queren. Dort fanden wir eine kleine Felsnische die uns eine recht angenehme Nachtruhe versprach. Immer wieder zuckten wir erschrocken zusammen, wenn ein BASE-Jumper mit Wingsuit über uns mit der Geräuschkulisse eines kleinen Kampfjets hinwegrauschte. Zwei Fragen gingen uns beide vor dem Einschlafen durch den Kopf: Was würde uns morgen erwarten? Und warum zum Teufel hatten wir kein Bier für heute Abend mitgenommen!?

Nach einer viel zu warmen Nacht waren wir um 5:30 Uhr zurück beim Bäumchen, wo ein Statikseil hinauf zum ersten Standplatz fixiert ist. Ich montierte meinen Ropeman und einen Tibloc daran und begann mit dem mühsamen Aufstieg. Auf halber Höhe war das Seil jedoch so dick und ausgefranst, dass beide Klemmgeräte an ihre Grenzen stießen und ich kletterte fortan an den Haken weiter. So ein Kickstart am frühen Morgen kostet extrem viel Kraft und lässt einen wiedermal an seiner Kondition zweifeln.

Die Route ist komplett mit 6mm Express-Anker und Ringmuttern aus dem Baumarkt ausgestattet. Das Gute an den Ringmuttern ist, dass sie einen äußerst massiven Eindruck machen und meistens den Rost der furchterregend dünnen Bolts, an denen sie montiert sind, verdecken. Schlechter ist, dass man nur einen Karabiner in der Öse Platz hat. Die Standplätze sind ALLE zusätzlich mit meist zwei 10mm Express-Anker ausgestattet.

Ab der vierten Seillänge geht es dann richtig zur Sache. Man durchquert elegant die erste große Dächerzone ehe man im Laufe der 6. Seillänge wieder „flacheres“ Terrain erreicht. Hier klettert man die halbe Länge an Normalhaken, die aber trotz ihres Alters noch recht stabil sind. Außerdem quert hier die Freikletterroute von David und Jorg die Vertigine, was an den unzähligen Tickmarks ersichtlich war. Unterhalb des großen Dachs hängt auch noch ihr Portaledge, das mit Statikseilen bis zum Ausstieg verbunden ist. Die Vertigine verläuft aber weiter links und in der 9. Seillänge wird es am ca. 7 Meter horizontal ausladenden Dach das erste Mal so richtig luftig .

Viel Zeit gekostet hat uns die 11. Seillänge, welche von einer alten Stahlseiltrommel, an der ich nicht einmal ein Bild aufhängen möchte, nach links quert. Hier sind besonders viele der Zwischensicherungen ausgebrochen und wer gerade – so wie ich – keine Kletterschuhe an den Füßen trägt ist froh, wenn er ein paar Cliffhanger/Hooks am Gurt hängen hat. Nach drei prickelnden Hook-Zügen (Zitat Pete Zabrok: “Hooking is scary but great fun“) hoffte ich dann das gröbste hinter mir zu haben… Weit gefehlt: Etwa drei Meter vor dem Stand sind wieder ein oder zwei Haken ausgebrochen und der extrem brüchige Fels lässt definitiv kein Hooken oder Normalhaken-Schlagen zu. Wo war nochmal unser Clipstick? Aja – wir haben keinen! Also dann: Handbohrer marsch! Danke Lucky für deinen genialen Eigenbau-Handbohrer! Nach etwa 20 Minuten hatte ich dann endlich ein ca 2cm tiefes, 6mm breites Loch in den Fels gehämmert. Express-Anker hinein, Mutter leicht anziehen, Rivet Hanger drauf und Stoßgebet dass es hält! Ein paar Minuten später endlich der laute, erleichterte Ruf: „STAAAAND!“

Die folgenden zwei Längen sind kein Problem und dann kommt der krönende Abschluss mit der Länge 14. Sie beginnt recht harmlos, also nur leicht überhängend, ehe man sich dann über einen gewaltigen Überhang hinauf kämpft. An der Dachkante hat man wirklich die gesamte Höhe der Route unter dem Allerwertesten und man kann vor Freude nur noch jubeln, wenn man erkennt, dass einen nur noch etwa 20 Meter im fünften Grad vom Ausstieg trennen.

Um 22 Uhr stehen Gerhard und ich am Exit Point der BASE Jumper. 16,5 Stunden Klettern ohne wirkliche Pause sind hinter uns und wir sind beide halb verdurstet, also nichts wie hinunter zu den Rädern. „Hinunter“ bedeutet bei diesem Abstieg leider für eine lange Zeit „bergauf“, denn wir wanderten in der Dunkelheit bis zum Gipfelkreuz des Monte Brento und erst von dort stiegen wir mit einer recht riskanten Querfeldein-Aktion ostwärts nach San Giovanni ab. Um Mitternacht waren wir dann endlich bei unseren Wasserreserven und entschieden uns hier zu übernachten und erst morgen die Heimreise anzutreten.

Wie schon anfangs erwähnt: Im Grunde ist die Route weder für Freikletterer noch für echte Techno-Freaks besonders schön, da man ja selber eigentlich nicht viel Eigenkönnen mitbringen muss wenn schon alle Zwischensicherungen da sind, aber die enorme Ausgesetztheit und das Ambiente machen die Via Vertigine trotzdem zu einem großen Erlebnis! Mein großer Respekt gilt meinem Partner Gerhard, der sich mit dieser Route nicht gerade die leichteste Gelegenheit gesucht hat das erste Mal überhaupt mit Leiter zu klettern! Ob ich in ihm aber die Begeisterung für lange Techno-Touren geweckt habe bleibt allerdings fraglich 😉

 

 

Hier alle Bilder der Tour zum durchklicken:

 

Hier noch ein paar nützliche Informationen für Wiederholer:

Das Topo von D. Filippi ist sehr gut und alle Standplätze sind richtig eingezeichnet. Die ersten 40m kann man recht einfach seilfrei über eine Rampe bis zum deutlich von unten sichtbaren, ersten Standplatz klettern. Die 3. Seillänge ist mit VI+ bewertet, das sollte aber wahrscheinlich eher IV+ heißen. Die ebenfalls mit VI+ bewertete 7. Seillänge ist extrem brüchig, kann aber fast A0 an perfekten 10mm Bohrhaken geklettert werden.

Etwa 30 Meter unterhalb des Bäumchens wo die technische Kletterei startet kann man über ein 2m breites Band recht bequem nach Norden zu dem kleinen Wald queren. Hier gibt es unterhalb einer Felsnase einen perfekten Biwakplatz mit einem neuen Bohrhaken.

Die technische Kletterei selbst ist meist ziemlich unproblematisch, wobei die Abstände stark variieren. Manchmal muss man schon ganz nett hoch in seiner Leiter steigen, um den nächsten Haken zu klicken. Es sind immer wieder Haken ausgebrochen, doch dann hängt meistens eine Reepschnur vom nächsten herunter.

Man kann die ganze Route auch in festen Schuhen gehen, aber immer wieder gibt es ein paar Freikletterzüge wo man Zeit sparen kann.

An allen Standplätzen kann man zumindest ein bisschen auf kleinen Leisten und Absätzen stehen. Am Stand nach der 11. Länge des oberen Teils könnte man einigermaßen bequem sitzen oder sogar liegen.

Unser Material:

  • 2,5 Liter Wasser (Sehr kleiner Camelback-Rucksack ist extrem nützlich!)
  • Minimal-Biwak-Ausrüstung
  • 2 x 50m Halbseile
  • 30 Express (dicke, damit man sie gut angreifen kann) Manche Längen sind extrem lang, und ich hätte wahrscheinlich 40 oder mehr Express gebraucht, wenn ich alle Zwischensicherungen eingehängt hätte!
  • 1 x Frog (Sehr praktisch weil ein paar Bolts zu weit in die Öse stehen und deshalb kein Karabiner platz hat!)
  • 2 x Leiter pro Person (Wir hatten die BigWall Aiders von Yates – ein wahrer Luxus!)
  • Handschuhe!!!
  • 1 x Steigklemme für den Nachsteiger (selten verwendet)
  • 1 x Ropeman + Tibloc
  • 2 x Hook / Cliffhanger
  • 5 x Rivet Hanger (Vor Allem in der 11. Seillänge praktisch!)
  • 1 x Hammer
  • 1 x Handbohrset + Bolts (Würde niemals ohne einsteigen!)
  • Normalhaken (Nicht gebraucht könnten aber weiterhelfen)
  • KEINE FRIENDS ODER STOPPER!!! Kann man getrost daheim lassen!
  • Zu empfehlen: Clipstick!!!

1 Kommentar zu „Monte Brento – Via Vertigine (1000m – VI+/A2)“

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